Im Winter
Du kahler Baum, ich seh dich stehn
im rauhen Winterwetter,
und dennoch, mein ich, bist du schön,
auch ohne Blüt und Blätter.
Du trägst geduldig Leid und Last,
trotz wilder Stürme Toben,
dem Lichte zu mit jedem Ast,
strebst du getrost nach oben.
Bis dich des Schöpfers Hand berührt,
schenkt Blätter dir und Blüte,
und dich mit Früchten schön verziert,
als Wunder seiner Güte.
Voll Wunder ist die weite Welt,
geh aus, mein Herz, und schaue,
für dich hat Gott sie hingestellt,
verzage nicht, vertraue!
(Margarete Rode)
Jahreszeiten und Lebenszeiten wechseln. Zartes Frühlingsgrün, satte Sommerfarben, reife Herbstfrüchte, glitzernde Winterlandschaft, jede Zeit hat ihre Schönheit und Bedeutung. Auch das rauhe Winterwetter, entlaubte Bäume, die Stürme aushalten, dem Frost trotzen, unter der Schneelast sich beugen, gehören zum Leben. "Du trägst geduldig Leid und Last" ist die Überschrift über manche Strecken unseres Lebens.
Ein Baum im Winter, kahl und nackt, Kälte und Nacht ausgesetzt, steht ruhig da und wartet auf Veränderung. Er kann nichts tun und ist doch bereit, neues Leben zu empfangen. Sein ganzes Wesen ist ausgestrecktes Warten, gelassenes Hoffen, stilles Standhalten und festes Vertrauen auf neue Blüte.
Ein Baum im Winter ist ein schönes Zeichen der Hoffnung. Leben ist Warten und Sich-Ausstrecken, Hoffen und Vertrauen. Im Anschauen eines winterlichen Baumes wollen wir die Ungeduld unseres Herzens, die Verzagtheit unserer Seele und die Unruhe unseres Körpers überwinden.
Für dich hat Gott sie – die Bäume im Winter – hingestellt, verzage nicht, vertraue!
Zur Nacht hat ein Sturm alle Blätter entlaubt,
sieh sie an, die knöchernen Besen.
Ein Narr, wer bei diesem Anblick glaubt,
es wäre je Sommer gewesen.
Und ein größerer Narr, wer träumt und sinnt,
es könnt‘ je wieder Sommer werden.
Und grad‘ diese gläubige Narrheit, Kind,
ist die sicherste Wahrheit auf Erden.
(Ernst Ginsberg)