Die echte Liebe

Ein Bauer kämpft sich durch meterhohen Schnee zu seinem hoch am Berg liegenden Hof nach Hause. Die müden Füße wollen ihn kaum mehr tragen. Immer tiefer sinkt der erschöpfte Mann in den Schnee ein. Und der Hof ist noch weit. Auf einmal ist eine alte Frau neben ihm. Ihr Gesicht ist von Sorge und Leid zerfurcht. Aber ihre Augen leuchten. Als der Bauer kaum mehr gehen kann, reicht ihm die alte Frau ihre von harter Arbeit gezeichnete Hand. Und sonderbar, die alte, zarte Frau zieht ihn besser als der stärkste Mann vorwärts. Der Bauer hält die Hand fest. Ganz warm strömt es aus der Frau zu ihm herüber. "Wer bist du?" fragt der Bauer verwundert, "und wo kommst du her?" "Ich wohne überall", sagt die Alte. "So bist du also kein Mensch?" entsetzt sich der Bauer. "Nein", sagt die Alte, "ich lebe nur unter den Menschen." "Dann bist du die Sorge, der Kummer, die Not, die jeden Menschen begleitet?" "Nein", lächelt die Frau "ich bin die Liebe, die echte Liebe!" Da bleibt der Bauer verwundert stehen und schaut auf das zerfurchte Gesicht, die rauhen Hände, das weiße Haar und den gebeugten Rücken der Alten. "Die Liebe stell ich mir anders vor. Die prangt in Schönheit, hat blühende Farben, einen roten Mund zum Küssen und einen prallen Leib zum Umarmen!"

"Ach, du meinst die Lust, die sich manchmal für die Liebe ausgibt. Nein, die Liebe ist ganz anders. Denk mal nach, wann du der Liebe in Wahrheit begegnet bist. Wie bist du auf die Welt gekommen, wer hat dich zärtlich aufgezogen, nachts gewacht und tags gesorgt, wer hat Ungerechtigkeit erduldet und mit Güte beantwortet, wer hat die Mühen und Leiden des Alltags getragen, wer hat die harten, egoistischen Herzen verwandelt? Das war immer die Liebe, die echte Liebe!"

"Du hast recht", sagt der Bauer. "Die echte Liebe hat – und darum bin ich so zerfurcht und gebeugt – das Schwerste zu tun. Sie muss überall da sein, wo Menschen in Lust und Leidenschaft Leben zerstören und Gutes versäumen. Wenn Menschen richtig leben wollen, muss ich ihnen helfen, das Leid zu tragen, ohne das es keine echte Liebe gibt. Ich muss sie stark machen zum Opfer. Die glänzenden Bilder, die verführen und bezaubern, sind nur Trug und Schein. Die echte Liebe geht von Arbeit gebeugt, von Leid gezeichnet und doch voll Kraft und Ausdauer ihren Weg!" "Warum verlässt du mich dann schon?", fragt der Bauer, als die alte Frau sich zum Gehen wendet. "Ich bin jetzt in dir, Bauer", sagt die Frau. Und sie hatte recht. Der Bauer fühlte es zwar selber nicht, aber alle anderen Menschen in seiner Umgebung fühlten es fortan.

(Nach einem japanischen Märchen)

"Durch die Liebe diene einer dem andern!"

(Galater 5,13)