Das größere Unglück
Ein kleiner Junge aus einem Dorf verirrte sich abends im Wald und wurde von seinen Eltern vermisst. Das ganze Dorf nahm teil an der Sorge der Eltern und machte sich auf die Suche. Landwirte rannten aus ihren Ställen, Kaufleute verließen ihre Geschäfte, Handwerker machten ihre Werkstätten dicht, Hausfrauen ließen das Abendessen kalt werden, eine Kirchenversammlung wurde abgebrochen, und alle kamen zusammen, um den Jungen zu suchen. Fieberhaft und planmäßig zugleich wurde die ganze Gegend abgesucht, um der hereinbrechenden Nacht zuvorzukommen. Nach stundenlanger Suche und unter Einsatz aller Kräfte und Mittel wurde das vollkommen verängstigte Kind schließlich gefunden. Wie freuten sich alle mit den Eltern über den glücklichen Ausgang.
Zwanzig Jahre später ist der Junge erwachsen. Er ist erneut in die Irre gegangen und hat sich im Gestrüpp des Lebens verfangen. Aber niemand sucht nach ihm. Vater und Mutter sind eifrig dabei, Geld zu verdienen. Die Kirchenversammlung berät den neuen Haushaltsplan. Nachbarn und Freunde haben mit ihren eigenen Sorgen und Problemen zu tun. Es wird kein Notruf ausgesandt. Keine Suche beginnt. Alle lassen den Jungen im viel größeren Unglück allein. Wenn ein Mensch in seiner Sünde verloren geht, ist das viel schlimmer. Aber niemand macht sich auf, um ihn zu suchen. Kümmert uns die Verlorenheit der Menschenkinder noch, dass wir uns aufmachen? Oder sind wir mit den wenigen zufrieden, die von selbst nach Hause gefunden haben?
"Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, so er deren eines verliert, der nicht lasse die neunundneunzig in der Wüste und hingehe nach dem verlorenen, bis dass er’s finde?"
(Lukas 15,4)