Nur anvertraut
Am Sabbatnachmittag kommt der Rabbi aus dem Bethaus nach Hause und vermisst seine beiden Söhne. "Wo sind die beiden Jungen?" fragt er seine Frau. "Sie sind wohl in das Lehrhaus gegangen", antwortet sie. Und als der Mann nach einiger Zeit wieder fragt, entgegnet die Frau: "Sie sind vielleicht zu Freunden. Schon einige Male kamen sie erst später nach Hause!" Doch der Rabbi fragt immer besorgter: "Wo sind meine beiden Söhne?" Die Frau spricht: "Erlaube, dass ich dich etwas frage." "Was ist es?" Die Frau erwidert: "Vor einiger Zeit kam ein Fremder zu mir und gab mir ein Pfand, damit ich es gut aufbewahre. Es waren zwei kostbare Perlen von großer Schönheit. Und ich hatte meine helle Freude an ihnen, als wären sie mein Eigentum. Heute nun, als du im Bethaus warst, ist der Fremde wiedergekommen und hat sein Pfand zuruckverlangt. Soll ich es ihm wiedergeben?" – "Wie fragst du nur?" antwortet der Rabbi streng. "Kannst du etwa zögern, ein Gut, das nur anvertraut ist, zurückzugeben?" – "Nein", erwidert die Frau, "aber ich wollte nicht ohne dein Wissen handeln. Denn auch du hattest dir angewöhnt, das wertvolle Pfand als dein Eigentum zu betrachten!"
Der Rabbi schreit: "Wo sind meine Kinder?" Da nimmt die Frau ihren Mann an die Hand und führt ihn in die Schlafkammer. Sie hebt die Decke vom Bett. Da liegen die beiden Jungen still und schön. Beide sind tot. Der Rabbi weint und wirft sich über sie. Die Frau aber steht ernst und bleich hinter ihm und blickt herab auf seinen tiefen Schmerz. "Hast du mich nicht geheißen, das Pfand zurückzugeben? Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen. Der Name des Herrn sei gelobt!"
Leib und Leben, Raum und Zeit, Eltern und Kinder, Freunde und Gefährten, alles kostbare Perlen, aber nur anvertraut. Solange wir sie haben, wollen wir sie behutsam aufbewahren, um sie eines Tages in Gottes gute Hand zurückzugeben!