Phantasie der Liebe

Es war einmal ein hoher Beamter bei seinem König in Ungnade gefallen. Der Herrscher ließ den Beamten zur Strafe im obersten Stock eines hohen Turmes einkerkern. In einer mondhellen Nacht schaute der Gefangene sehnsüchtig aus seinem Gefängnis hinab in den Hof. Dort unten in der schwindelnden Tiefe entdeckte er seine Frau. Sie machte ihm ein Zeichen und berührte die Mauer des Turmes. Voller Erwartung blickte der Mann herunter, gespannt, was seine Frau vorhabe. Ihre leisen Rufe konnte er nicht verstehen. – Aber sie hatte einen Plan. An einem Käfer, dessen Fühler sie mit Honig bestrichen hatte, befestigte sie einen winzigen Seidenfaden. Dann setzte sie das Tier – mit den Fühlern nach oben – an die Turmmauer, gerade unterhalb der Stelle des Turmes, wo sie hoch oben ihren Mann hinter den Gittern sah. Der Käfer krabbelte langsam – immer dem Honig folgend – höher hinauf, bis er schließlich bei dem Gefangenen ankam. Der sah den dünnen Seidenfaden, löste ihn vorsichtig vom Insekt und zog ihn langsam nach oben. Am seidenen Faden hing schließlich ein Zwirnsfaden, am Zwirnsfaden dann eine dicke Schnur, an der Schnur letztendlich ein kräftiges Seil. Er befestigte das Seil an einer der Turmzinnen, zwängte sich durch das Fenstergitter hinaus und ließ sich am Seil hinab. Er war frei. Glücklich schloss er seine Frau in die Arme, und leise verschwanden sie in der Nacht.

(Nach einem indischen Märchen)

Manchmal hängt das Leben an einem seidenen Faden. Aber die Phantasie der Liebe kann daraus ein dickes Seil der Erlösung und Befreiung machen.

"Wandelt in der Liebe, gleichwie Christus euch hat geliebt!"

(Epheser 5,2)

Das ist Erquickung!

Auf Kreta wird von einem berühmten Eremiten, dem heiligen Vater Makarios, der im 4. Jahrhundert in Ägypten lebte, folgende Geschichte erzählt:

Vater Makarios wandert einmal durch die Wüste des Nillandes und stößt auf einen Schädel im Wüstensand. Er spricht ihn an: Wer bist du?" – "Ich war Priester der Heiden", war die Antwort des Schädels, "wenn du für die Menschen betest, die in der Hölle sind, erfahren sie große Erquickung." Darauf Vater Makarios: "Wie ist denn die Hölle, und wie ist die Erquickung?" Der Schädel: "Wir stehen da mitten in den Flammen. Unsere eigentliche Qual aber ist, dass man uns dort Rücken an Rücken gefesselt hat, so dass der eine das Gesicht des anderen nicht sehen kann. Das ist die eigentliche Hölle. Wenn du aber für uns betest, werden die Fesseln lockerer, und wir können uns sehen. Das ist die Erquickung!"

Man lebt ganz nah beieinander und ist doch gegeneinander gekehrt. In Ehen und Familien, unter Nachbarn und Freunden, Arbeitskollegen und Mitarbeitern gibt es diese Not des "Rücken an Rücken". Manche Fesseln von Bitterkeit und Neid, Eifersucht und Missgunst, Egoismus und Rücksichtslosigkeit verhindern, dass wir uns ins Gesicht sehen und begegnen können. Wirklich, das ist die Hölle auf Erden, wo miteinander verbundene Menschen sich nicht mehr zu Gesicht bekommen, sondern gefesselt und gelähmt einander den Rücken zeigen.

Die alte Wüstengeschichte aber weiß um eine Lösung, um die Lösung von der lähmenden Fessel: "Wenn du für uns betest, werden die Fesseln lockerer, und wir können uns sehen. Das ist die Erquickung."

"Und ich bete darum, dass eure Liebe je mehr und mehr reich werde an Erkenntnis und Erfahrung!"

(Paulus an die Philipper – 1,9)

Genug zum Leben

Der Prinzregent Luitpold von Bayern hatte sich einst auf der Gemsjagd in den Bergen verstiegen. Ein Almbub fand den hilflosen Mann und half ihm aus der Bergwand heraus und leitete ihn sicher zurück. Wieder in Sicherheit, bedankte sich der Fürst mit einem Geldstück und fragte den Jungen nach Namen, Eltern und Wohnort. "Franzi heiß ich. Ich bin ein Findelkind und hüte da heroben für die Bauern das Jungvieh ‚ " Der Fürst wollte wissen, was er dafür bekomme. "Das Essen und’s Gewand", antwortete der Franzl. "Das ist aber wenig", meinte der Prinzregent. Worauf ihn der Franzl erstaunt fragte: "Hast du vielleicht mehr?"

"Es ist aber ein großer Gewinn, wer gottselig ist und lässet sich genügen. Denn wir haben nichts in die Welt gebracht; darum werden wir auch nichts hinausbringen. Wenn wir aber Nahrung und Kleidung haben, so lasset uns genügen. Denn Habsucht ist eine Wurzel alles Übels!"

(I. Timotheus 6,6-8.10)

Täglich zu singen

Ich danke Gott und freue mich
Wie’s Kind zur Weihnachtgabe,
Dass ich bin, bin! Und dass ich dich,
Schön menschlich Antlitz! habe;

Dass ich die Sonne, Berg und Meer,
Und Laub und Gras kann sehen
Und abends unterm Sternenheer
Und lieben Monde gehen;

Und dass mir denn zu Mute ist,
Als wenn wir Kinder kamen
Und sahen, was der heil’ge Christ
Bescheret hatte, Amen!

Ich danke Gott mit Saitenspiel,
Dass ich kein König worden;
Ich wär geschmeichelt worden viel
Und wär vielleicht verdorben.

Auch bet ich ihn von Herzen an,
Dass ich auf dieser Erde
Nicht bin ein großer reicher Mann
Und auch wohl keiner werde.

Denn Ehr und Reichtum treibt und bläht,
Hat mancherlei Gefahren,
Und vielen hat’s das Herz verdreht,
Die weiland wacker waren.

Und all das Geld und all das Gut
Gewährt zwar viele Sachen;
Gesundheit, Schlaf und guten Mut
Kann’s aber doch nicht machen.

Und die sind doch, bei Ja und Nein!
Ein rechter Lohn und Segen!
Drum will ich mich nicht groß kastei’n
Des vielen Geldes wegen.

Gott gebe mir nur jeden, Tag.
So viel ich darf zum Leben.
Er gibt’s dem Sperling auf dem Dach;
Wie sollt er’s mir nicht geben!

(Matthias Claudius)

Hergeben und Behalten

Eine arabische Legende erzählt von einem Vater und seinen drei Söhnen. Der Vater stirbt und hinterlässt seinen Söhnen 17 Kamele und ein Testament, in dem er die Aufteilung der Kamele unter die Kinder genau festgelegt hat. Der älteste Sohn soll die Hälfte bekommen, der zweite Sohn ein Drittel und der jüngste ein Neuntel. 17 Kamele, die Hälfte geht nicht, ein Drittel geht nicht, ein Neuntel geht nicht. Die Zahl 17 lässt sich weder durch zwei noch durch drei noch durch neun teilen. Darum geraten die Söhne nach dem Tod des Vaters in einen heftigen Streit. Schließlich kommt ein Fremder geritten. Er hört den schwierigen Fall an und stellt nach einigem Überlegen sein eigenes Kamel dazu. Nun sind es 18 Kamele, und die Aufgabe lässt sich lösen. Der älteste bekommt die Hälfte, also neun Kamele, der zweite ein Drittel, also sechs Kamele, und der dritte Sohn erhält ein Neuntel, also zwei Kamele. Nachdem die Kamele so aufgeteilt sind, machen sie alle eine wunderbare Entdeckung: neun und sechs und zwei sind zusammen 17 Kamele. Das vom Fremden dazugestellte Kamel bleibt für ihn über. So hat sich der Fremde mit seinem Gut eingebracht, die Schwierigkeit damit gelöst und sein Kamel doch behalten.

Wie oft ist es nötig, dass man sich als Freund oder Seelsorger hergibt, um unlösbar scheinende Verwicklungen zu entwirren. Aber man bleibt doch am Ende erhalten. Man hat sich ganz hergegeben und wird sich doch ganz behalten. Und gerade in der Seelsorge und Beratung ist es wichtig, bei der Nähe der Bereitschaft auch die Distanz der Achtung zu wahren. Seelsorger geben sich ganz hinein, aber geben sich nicht im andern auf. Wir dürfen den Menschen raten und helfen, aber sie nicht an uns binden. Wir bleiben bei allem Einsatz der Liebe frei zum Weitergehen.

Nur anvertraut

Am Sabbatnachmittag kommt der Rabbi aus dem Bethaus nach Hause und vermisst seine beiden Söhne. "Wo sind die beiden Jungen?" fragt er seine Frau. "Sie sind wohl in das Lehrhaus gegangen", antwortet sie. Und als der Mann nach einiger Zeit wieder fragt, entgegnet die Frau: "Sie sind vielleicht zu Freunden. Schon einige Male kamen sie erst später nach Hause!" Doch der Rabbi fragt immer besorgter: "Wo sind meine beiden Söhne?" Die Frau spricht: "Erlaube, dass ich dich etwas frage." "Was ist es?" Die Frau erwidert: "Vor einiger Zeit kam ein Fremder zu mir und gab mir ein Pfand, damit ich es gut aufbewahre. Es waren zwei kostbare Perlen von großer Schönheit. Und ich hatte meine helle Freude an ihnen, als wären sie mein Eigentum. Heute nun, als du im Bethaus warst, ist der Fremde wiedergekommen und hat sein Pfand zuruckverlangt. Soll ich es ihm wiedergeben?" – "Wie fragst du nur?" antwortet der Rabbi streng. "Kannst du etwa zögern, ein Gut, das nur anvertraut ist, zurückzugeben?" – "Nein", erwidert die Frau, "aber ich wollte nicht ohne dein Wissen handeln. Denn auch du hattest dir angewöhnt, das wertvolle Pfand als dein Eigentum zu betrachten!"

Der Rabbi schreit: "Wo sind meine Kinder?" Da nimmt die Frau ihren Mann an die Hand und führt ihn in die Schlafkammer. Sie hebt die Decke vom Bett. Da liegen die beiden Jungen still und schön. Beide sind tot. Der Rabbi weint und wirft sich über sie. Die Frau aber steht ernst und bleich hinter ihm und blickt herab auf seinen tiefen Schmerz. "Hast du mich nicht geheißen, das Pfand zurückzugeben? Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen. Der Name des Herrn sei gelobt!"

Leib und Leben, Raum und Zeit, Eltern und Kinder, Freunde und Gefährten, alles kostbare Perlen, aber nur anvertraut. Solange wir sie haben, wollen wir sie behutsam aufbewahren, um sie eines Tages in Gottes gute Hand zurückzugeben!

Menschenware oder wahre Menschen

Dostojewski schildert in einem seiner Romane, wie ein russischer Student eine alte Frau umbringt, weil sie ihm im Wege steht. Seiner Freundin gegenüber rechtfertigt er seine Tat mit den Worten: "Ich habe eine Laus zertreten!" Das Mädchen antwortet kurz und klar: "Ein Mensch ist keine Laus!"

Weil die Ehrfurcht vor dem Menschen verlorengegangen ist, geschieht soviel Not und Elend, werden soviel Blut und Tränen vergossen. Im Licht der göttlichen Wahrheit müssen wir immer wieder die Würde des Menschen erkennen. Jeder Mensch ist ein Ebenbild und Gegenüber Gottes. Seine Würde liegt nicht in Leistung und Arbeit, in Alter oder Gesundheit begründet, sondern allein in der Zuwendung Gottes und in der Angewiesenheit des Menschen. Unermesslich und unbeschreiblich ist die Würde des Menschen als Gegenüber Gottes, auch für die in den Augen der Menschen Unwürdigsten. Gottes Liebe schüttet einen Damm auf gegen alle Flut von Menschenverachtung. Wo Menschen wie Vieh behandelt, verfolgt und gequält, unterdrückt und zertreten werden, geschieht Sünde, die Verletzung Gottes in der Gestalt seiner Ebenbilder. Wo wir geborenes oder ungeborenes Menschenleben eigenmächtig antasten, laden wir eine schwere Schuld auf uns, die sich wie ein dunkler Schatten auf alle Menschen legt. Der Mensch ist in den Augen Gottes keine Eintagsfliege, keine Arbeitskraft, kein Sandkorn oder Rädchen im Getriebe, sondern gewollt und geliebt, gesucht und geschätzt. Das ist unser und aller Menschen Adel, dass wir von Gott wertgeschätzt und geliebt sind. Darum brauchen wir an uns nicht zu zweifeln, andere nicht verachten, niemanden beneiden, zu keinem falsch heraufsehen, auf niemanden falsch herabsehen. In der Würde, die uns Gott verleiht, sind wir zur Liebe untereinander bereit. So werden aus Herdentieren, Arbeitskräften, Sozialfällen, Fremden und Menschenmaterial wahre Menschen, die Gott gehören und einander achten.

"Gott will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen!"

(I. Timotheus 2,4)

Die Krone des Lebens

Unter dem römischen Kaiser Marc Aurel breitete sich die Christenverfolgung bis nach Kleinasien aus. Im Jahr 167 wütete sie in Smyrna, wo Bischof Polykarp der christlichen Gemeinde vorstand. Er war ein Schüler des Apostels Johannes und damals 90 Jahre alt. Sein Aufenthalt in einem nahegelegenen Landhaus wurde verraten und Polykarp gefangengenommen. Nachdem er seine Häscher reichlich bewirtet und sich eine Stunde im Gebet gestärkt hatte, wurde Polykarp vor den Statthalter geführt. Unter wildem Geschrei des Volkes wurde er verhört. Der Statthalter redete auf den alten Mann ein: "Bedenke dein hohes Alter. Schwöre beim Namen des Kaisers und fluche deinem Christus, und ich lasse dich frei!" Aber Polykarp entgegnete ihm: "90 Jahre hat mich Jesus getragen und geliebt. Wie sollte ich meinem König absagen, der mich selig gemacht hat?"

Der Statthalter drohte mit dem Tode durch wilde Tiere, wenn er seinen Sinn nicht ändere. Als Polykarp völlig unbeeindruckt blieb, rief der Statthalter aus: "Wenn du die wilden Tiere verachtest, so werde ich dich lebendig verbrennen lassen!" Da antwortete Polykarp: "Du drohst mit einem Feuer, das nur eine Stunde lang brennt und bald verlischt; und du denkst nicht an das Feuer des ewigen Gerichts, das auf die Gottlosen wartet?" Da schrie die ganze Volksmenge in großer Wut: "Lass ihn lebendig verbrennen!" Sofort schleppten die Leute aus den Werkstätten und Badestuben Holz und Späne herbei. Polykarp aber legte in Ruhe seine Kleider und Schuhe ab. Als man ihn binden wollte, bat er: "Lasst mich ohne Fesseln. Der mir die Kraft gibt, das Feuer auszuhalten, wird mir auch helfen, unbeweglich im Feuer zu stehen!" Dann betete er laut und dankte Gott, dass er ihn gewürdigt hatte, sein Leben für ihn zu lassen und an den Leiden Christi teilzuhaben. Betend und dankend verbrannte Polykarp von Smyrna für seinen Herrn Jesus.

"Und dem Engel der Gemeinde zu Smyrna schreibe: Ich weiß deine Trübsal und deine Armut – du bist aber reich. Fürchte dich vor keinem, was du leiden wirst! Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben!"

(Offenbarung 2,8-10)

Gott kann

Er war nicht sehr groß und auch nicht sehr klein. Er war ein ganz normaler Stein irgendwo am Rande eines Feldes. Schon lange, schon immer lag er hier oberhalb des Dorfes auf einem sanft abfallenden Hang. Der Stein hatte ein beschauliches Alltagsleben zwischen Feld und Weg abseits des regen Dorflebens. Eines Tages vernahm er in sich eine Stimme: "Du müsstest eigentlich ganz woanders liegen, unten, wo der Weg das Dorf erreicht, an der alten Mühle, wo die Kinder im Bach spielen!" Der Stein wehrte sich energisch gegen diese Stimme: "Das ist unmöglich, ich bin ein Stein, ich kann mich nicht fortbewegen. Ich bin schließlich kein Vogel, der fliegen kann, kein Wagen, der rollt, keine Schnecke, die kriecht, kein Wind, der umherbrausen kann!" So sprach der Stein. Aber die Stimme ließ nicht locker, und der Stein beharrte auf seinem Einwand gegen jede Veränderung. Da brach hoch oben in den Bergen
ein Gewitter los. Blitze zuckten, Stürme jagten die Regenwolken heran, Wassermassen stürzten vom Himmel. Die Flüsse wurden zu reißenden Strömen, kleine Bäche traten über die Ufer, und mancher Weg verwandelte sich in einen kräftigen Wasserlauf. Schmutzigbraunes Wasser gurgelte auch den kleinen Weg, an dem der Stein seinen festen Platz hatte, herunter, rauschte und schäumte talwärts und riss den Stein mit sich fort. Er stieß sich hier und da, verlor an einigen Ecken und Kanten etwas von seiner Form und landete schließlich, als das Unwetter nachließ und der Regen aufgehört hatte, genau an der Stelle, von der die Stimme gesprochen hatte, an der alten Mühle, wo die Kinder im Bach spielten. Der Stein wusste gar nicht so genau, wie er dahin gekommen war. Aber nun lag er dort!

Wie oft scheint eine Veränderung in unserem Leben unmöglich. Wie oft scheint es uns aussichtslos, die Weisungen Gottes zu befolgen. "Sollte aber dem Herrn etwas unmöglich sein?" (l. Mose 18,14; vgl. Jererma 32,17.27).

"Es ist dem Herrn nicht schwer durch viel oder wenig zu helfen!"

(I. Samuel 14,6)

Die andere Schönheit

"Lobe den Herrn, meine Seele! Herr mein Gott; du bist sehr herrlich, du bist schön und prächtig geschmückt. Licht ist dein Kleid, das du anhast!"

(Psalm 104,1f)

Gott ist schön. Aber er hat seine Schönheit unter dem Kleid seiner Schöpfung verborgen. Wenn Gott sich in seiner letzten Schönheit zeigte, niemand würde noch irgend etwas anderes ansehen. Wer würde schon eine bunte Sommerblume, eine rosa Wolke, ein Abendrot oder einen Sonnenaufgang, einen Berggipfel oder einen Sternenhimmel, einen herrlichen Regenbogen oder einen Tautropfen, ein drolliges Tier oder einen liebreizenden Menschen anschauen, wenn man Gott sehen könnte. Gott hat seine letzte Schönheit verhüllt, damit wir seine Welt anschauen und unsere Blicke gespannt bleiben auf Kommendes, wenn wir einmal noch mehr von Gott sehen werden. Schauen wir also erst mal das schöne Kleid Gottes an: "Schön sind die Wälder, schön sind die Felder in der schönen Frühlingszeit. Schön leucht‘ die Sonne, schön leucht‘ der Monde und die Sterne allzumal. Schön sind die Blumen, schöner sind die Menschen in der frischen Jugendzeit!"

Noch viel schöner ist die Liebe Gottes in der Gestalt Jesu: Jesus ist schöner, Jesus ist reiner, der unser traurig Herz erfreut. Alle die Schönheit Himmels und der Erden ist verfasst in dir allein. Nichts soll mir werden lieber auf Erden als du, der schönste Jesus mein."

Noch einmal hat Gott seine Schönheit verborgen im Leben und Leiden, Sterben und Auferstehen seines Sohnes. Das ist die andere Schönheit Gottes:

"Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg!"

(Jesaja 53,2f).

Das war so schrecklich und schmerzlich, als Jesus für uns in den Tod und die Gottverlassenheit ging, dass Menschen nicht hinsehen mochten und auch die Sonne ihr Licht verweigerte. Aber für die Augen des Glaubens und das Gesicht der Liebe ist es das Schönste, was Menschen schauen können. Gott liebt uns bis zum Letzten. "Schönster Herr Jesu, Herrscher aller Herren, Gottes und Marien Sohn, dich will ich lieben, dich will ich ehren, du meiner Seele Freud und Wonn."

Die Schönheit Gottes wird darin erkennbar, dass er in die Wirklichkeit und Hässlichkeit unserer Welt hinabsteigt. Die Schönheit seines Erbarmens entspricht dem Schrecken unserer Erbärmlichkeit. Das ist die andere Schönheit Gottes. Gott ist nicht zu schön, um wahr zu sein. Gott ist so schön, dass er die ganze Wahrheit des Lebens mit der vollkommenen Liebe zum Leben verbindet. Das ist die Schönheit Gottes, die hilft und heilt, tröstet und trägt.

Gott ist in seiner Liebe schön. Und wir werden es im Loben. Gott ist in seiner Schöpfung schön. Und wir werden es im Staunen. Gott ist in Jesus schön. Und wir werden es in der Nachfolge Jesu. Gott ist in seiner Hingabe schön. Und wir werden es im Dienst für ihn. Gott ist in seinen Worten schön. Und wir werden es in der Antwort der Anbetung. "Lobe den Herrn, meine Seele! Herr, mein Gott…"

Falsche Bilder

Gott schuf den Menschen nach seinem Bild. Aber der Mensch verkehrt diesen Zusammenhang und schafft sich einen Gott nach seinem Bild.

Die Israeliten konnten Gott hören, aber nicht sehen. Gott sprach zu ihnen, und sie sollten nach seinen Worten leben. Aber sie wollten lieber einen Gott, den man sehen kann, der aber nicht in das Leben hineinredet. So machten sie sich das goldene Kalb. Ein schöner Gott, glänzend und goldig, aber stumm und wortlos, eben anspruchslos.

Gott leugnen ist die eine, die theoretische Form des Atheismus.

Gott für sich benutzen ist eine andere, die praktische Form des Atheismus.

Wir machen uns unseren Gott, und er soll uns bei unserem ichsüchtigen Streben nach Glück helfen.

Der Feuerwehr-Gott, der schnell kommen soll, wenn es brennt. Aber besser ist, man braucht ihn gar nicht.

Der Kindermädchen-Gott, der sich im Hintergrund aufhält, aber für die Sicherheit der Kinder verantwortlich ist.

Der Planierraupen-Gott, der die Hindernisse auf dem Weg zum Glück beiseite schieben soll.

Der Waschlappen-Gott, der uns von Zeit zu Zeit vom Staub und Dreck des Lebens reinigt.

Der Drogen-Gott, der uns aus Trauer und Angst in Hochstimmungen führt.

Der Lückenbüßer-Gott, der einspringt, wo wir nicht mehr weiterwissen.

Der Urknall-Gott, der einmal am Anfang alles in Gang gesetzt und sich dann zurückgezogen hat.

Der Milchstraßen-Gott, der als höheres Wesen irgendwo dazugehören darf.

Der Dekorations-Gott, der unsere Familienfeste und Lebenshöhepunkte wie eine hübsche Girlande verschönern soll.

Der Automaten-Gott, der funktioniert, wenn man Glaube und Gebet einwirft.

Der Wunscherfüller-Gott, der darauf wartet, sich bei uns beliebt zu machen.

Der Vorzeige-Gott, der in unserem frommen Leben die erste Geige spielt, aber am Dirigentenpult stehen wir und bestimmen die Einsätze Gottes.

Es gibt zwei Wege einer Sünde: Gott abschaffen und leugnen und Gott einspannen und benutzen.

Wir sind Gottes Schöpfung. Wehe uns, wenn wir das umkehren und Gott zu unserer Schöpfung machen. Das ist eigentlich die Ursünde: das Verkehren und Verfehlen des Göttlichen zum Menschen.