Ein Stichwort borgen

Gottfried Benn schrieb als lyrische Summe seiner Lebensanschauung das Gedicht "Verlorenes Ich". Darin beklagt Benn den Verlust von Zeit und Ort, Zusammenhang und Geschichte. Der Mensch hat den Sinn und die Hoffnung, Geborgenheit und Ziel seines Lebens verloren. Das Ich ist zersprengt, die Welt zerdacht, der Mensch entartet. Alle Bereiche und Zusammenhänge des Lebens zeigen Auflösungserscheinungen. Gegen Schluss des Gedichtes heißt es: "Woher, wohin – nicht Nacht, nicht Morgen, kein Evoè, kein Requiem, du möchtest dir ein Stichwort borgen allein bei wem?" Der Mensch weiß nicht mehr um Herkunft und Zukunft. Nachts, als Ziel des Tages, ist nicht. Morgen, als Anbruch und Aufbruch einer neuen Zeit, ist nicht. Es gibt keinen Jubelruf (Evoè), keine Begeisterung, aber auch kein Trauerlied (Requiem). Alles ist gestorben und verloren.

Die Menschen suchen ein Stichwort, ein Wort, das sticht und löst, heilt und erneuert. Allein bei wem? Lange hat man gedacht, das Stichwort könnte Fortschritt heißen oder Wissenschaft, Leistung oder Technik, Wohlstand oder Freizeit. Aber alle diese Worte stechen nicht. Es gibt nur ein Wort, das Hand und Fuß, Herz und Leben hat, das alle Bereiche des menschlichen Lebens umfasst, die Tiefe des Leides, die Höhe der Leistungen, die Weite des Ewigen und die Dichte des wirklichen Lebens. Ein Wort wurde Mensch und Leben, Jesus Christus. In seinem Leben ist alles enthalten, Gott und Geschichte, Gott und Mensch, Raum und Zeit, Leben und Ewigkeit. Sein Leben umfasst das Requiem – gehorsam bis zum Tode am Kreuz – und auch das Evoè, den Jubelruf: "Er ist auferstanden und lebt!"

Gott borgt uns sein Stichwort. Damit können wir wirklich gewinnen. Wir können in Jesus Gott wiederfinden, den Frieden, den Zusammenhang mit der Schöpfung, mit der Zukunft, mit den anderen und uns selbst. Selbstfindung ist nur als Christusfindung möglich. Aber dort, in seiner Liebe und Treue, finden wir das verlorene Ich wieder. Borgen wir uns Gottes Stichwort, es heißt Jesus.