"Irene aus der sechsten Klasse. Vor wenigen Wochen kam sie mit schlimmen Würgemalen in die Schule. Auf meine Frage meinte sie fast entschuldigend:,Meiner Mama ihr Bauch wird immer dicker, und wenn die drei Kleinen so toben, dann verliert sie die Nerven. Die Kleinen schlagen, das bringt ja nichts. Ich bin doch die Älteste!‘
Rolf ist der dritte Papa‘ der Elfjährigen. Jetzt steht sie in der Wohnungstür, so schmal und klein, dass sie unter dem großen Schulranzen beinah verkrüppelt wirkt. Der Anorak, an den Ärmeln hochgekrempelt, reicht fast bis in die Knie. Die Wollmütze wird nur von der Brille gehindert, ihr ganz ins Gesicht zu rutschen. Die Augen hinter den dicken Gläsern wirken heute noch größer, noch blauer.
‚Nun, Irene, was ist denn passiert?‘ ‚ Er hat mich umgeben!‘ Es klingt
ganz einfach, froh und still zugleich. Umgeben? Wer?‘,Nun, ER. Von allen
Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.’Du meinst un-
seren Psalm?‘,Der Gott hat mich umgeben! Das war so. Die Mama und
der Papa haben sich geschlagen. Ich hatte Angst und bin in mein Bett
unter die Decke. Die Mama hat so geschrien. Ich hab gedacht, er macht
sie tot. Dann waren sie irgendwann still. Aber ich konnte nicht einschla-
fen. Ich hab auch gefroren, dabei hatte ich meine Kleider noch an. Aber
mir war kalt. Und angst. Und dann auf einmal, dann hat ER mich um-
geben.‘ ‚ Du hast Gott gespürt? ‚ Sie nickt. Es war ganz arg hell, und ich
brauchte keine Angst haben. Und dann hat das Helle aufgehört. Aber
immer noch warm. Und ich bin eingeschlafen. Gott hat mich umgeben.‘
,Glaubst du das auch? ‚Sie ist ganz gewiss, aber schaut mich fragend an.
,Ja, Irene, das glaube ich auch.’Wir sind beide still."
(Inger Hermann)
Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hände über mir.
(Psalm 139,5)