Der kluge Esel

Ein Landmann besaß einst drei Haustiere: ein Pferd, eine Eselin und ein Schwein. Pferd und Eselin wurden zur Arbeit angehalten, wofür ihnen das nötige Futter verabreicht wurde. Um vieles günstiger schien das Los des Schweines, welches nicht arbeitete, gleichwohl jedoch in weit reicherem Maße zu fressen bekam.
Eines Tages sprach nun das Pferd zur Eselin: "Wie töricht und zugleich undankbar ist wohl unser Herr. Sieh doch, wir müssen mit größter Anstrengung arbeiten und erhalten dafür doch nur genau zugemessenes Futter, während das Schwein, das nichts leistet, stets in Hülle und Fülle sein Futter erhält."
"Warte nur", erwiderte die Eselin, der geeignete Zeitpunkt kommt. Du wirst dann das traurige Ende des Schweines sehen und dich überzeugen, dass es nicht umsonst so reichlich gefüttert wird, da der Genuss ohne Arbeit noch niemandem zum Heile gereicht ist."
Wirklich dauerte es nicht lange, und das wohlgenährte Schwein wurde abgestochen.
Die Eselin hatte zu jener Zeit ein Junges, das die Prophezeiung seiner Mutter mit angehört hatte. Als ihm später eine etwas größere Portion Gerste vorgelegt wurde, wollte es nicht essen, da es fürchtete, das traurige Los des so sorgfältig gefütterten Schweines teilen zu müssen. Doch die Mutter beruhigte es mit den Worten: "Du kannst, mein Kind, ohne Furcht essen, denn nicht der Genuss bringt den Tod, sondern der Müßiggang!" (Ein jüdisches Märchen)

Das ist des Klugen Weisheit, dass er acht gibt auf seinen Weg; aber der Toren Torheit ist lauter Trug.
Sprüche 14,8

Horchen und Gehorchen

Samuel Keller erzählt in seinen Erinnerungen: "Neulich hatte ich am Samstag eine Predigt ausgearbeitet. Als ich am Sonntag mit der Straßenbahn zur Kirche fahre, spüre ich eine ganz starke innere Nötigung, die vorbereitete Predigt in der Tasche zu lassen und statt dessen über Psalm 39,2 zu predigen. Ich spreche also über das Wort: Ich will mich hüten, dass ich nicht sündige mit meiner Zunge, und will meinem Mund einen Zaum anlegen! Am Montag kommt ein Mann zu mir und bedankt sich ausdrücklich für die Predigt, die ihn vor einem großen Fehler bewahrt hat. Er hatte sich mit einem Geschäftsfreund gestritten und nun einen zornigen Brief geschrieben, der das Ende einer langjährigen Beziehung bedeutet hätte. Als der Brief fertig war, spürte der Mann eine starke innere Nötigung, den Brief noch nicht abzuschicken, sondern zuerst noch in den Gottesdienst zu gehen und die Predigt von Pfarrer Keller zu hören. Nach der Predigt schickte er den Brief nicht ab. Am Montag kam dann ein Brief von dem Geschäftsfreund, in dem der um Verzeihung bat und alle Unrichtigkeit in Ordnung brachte." Das sensible Horchen auf Gottes Stimme und das mutige Gehorchen zweier Menschen verhinderte auf wunderbare Weise eine unnötige Verwicklung.

Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück.
Jesaja 50,4f

Langsam und blitzschnell

Langsam und bedächtig bewegt sich die Schnecke. Alles Aufgeregte, Schnelle und Hektische ist ihr fremd. Ruhig und gemessen, fast plump und schwerfällig sind ihre Bewegungen. Sie ist das Symbol der Langsamkeit. Auffälliger Kontrast dazu sind die zarten Fühler der Schnecke. Sie bewegen sich blitzschnell, reagieren äußerst sensibel auf jede Gefahr und jedes Hindernis. Weil die Taster und Fühler der Schnecke so zart und sensibel, so rasch und blitzschnell reagieren, kann sie im Ganzen so beruhigt und gelassen ihre Bahn ziehen.
Vielleicht brauchen auch wir Menschen diese wunderbare Mischung aus zarten, wachsamen, empfindsamen Fühlern und einer gelassenen und gemessenen, bedachten und ruhigen Art des Lebens. Wenn unsere Herzensfühler so sensibel und wach alles Gefährliche und Widrige wahrnehmen könnten, müssten wir auch nicht so hektisch und aufgeregt herumrennen. Wir würden die Wirklichkeiten des Lebens rasch und empfindsam wahrnehmen, flink und blitzschnell Gefahren durchschauen und ruhig und bedacht unseren Weg gehen.
Betend und glaubend sind wir auf der Hut, haben unsere zarten Fühler ausgestreckt und gehen mit Liebe und Bedacht, mit Ruhe und Gelassenheit an die Arbeit und in den Tag.

Ein jeder Mensch sei schnell zum hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn.
Jakobus 1,19

Wann werden wir klug?

Einige Jäger charterten ein Flugzeug, das sie zur Büffeljagd bringen sollte. Nach einiger Zeit kam der Pilot wieder, um die Jäger abzuholen. Als er die erlegten Tiere sah, meinte er, seine Maschine könne mit den Jägern nicht mehr als einen Büffel mitnehmen, und riet, die anderen Tiere zurückzulassen. "Aber im letzten Jahr erlaubte uns der Pilot, zwei Büffel in der Maschine mitzunehmen!", wandten die Jäger ein. Der Pilot war skeptisch, willigte aber schließlich ein. So startete die kleine Maschine mit den Jägern und den zwei riesigen erlegten Tieren. Der Pilot hatte recht, das Flugzeug konnte keine Höhe gewinnen und prallte gegen einen naheliegenden Hügel. Die Männer kletterten heraus und sahen sich um. Ein Jäger sagte zu den anderen: "Was meint ihr, wo wir uns befinden?" Die anderen sahen sich suchend um, und einer meinte: "Ich glaube, wir sind ungefähr zwei Meilen westlich von der Stelle, an der wir im letzten Jahr abgestürzt sind!"

Wie ein Hund wieder frisst, was er gespien hat, so ist der Tor, der seine Torheit immer wieder treibt!
Sprüche 26,11

Wie geht es?

"Wie geht es?", fragte der Blinde den Lahmen.
"Wie Sie sehen!", antwortete der Lahme dem Blinden.

Zwar fragen uns Bekannte stets,
wenn sie uns treffen: "Na, wie geht’s?"
Doch warten sie so lange nie,
bis wir es sagen könnten, wie.
Wir stellen drum statt langer Klage
sofort die kurze Gegenfrage.
Dann ziehen höflich wir den Hut
und sagen beide: "Danke, gut!"
Wir scheiden, ohne uns zu grollen,
weil wir’s ja gar nicht wissen wollen!
(Eugen Roth)

Freundliche Reden sind Honigseim, trösten die Seele und erfrischen die Gebeine.
Sprüche 16,24

Hier sind wir, Herr!

Hier sind wir, Herr, versammelt vor dir,
getauft und geheiligt, so stehen wir bier.
Du hast uns gerufen, du hast uns erwahlt,
zu deiner Gemeinde hast du uns gezahlt.
Herr, erbarme dich unser .. .

Du weißt, wir sind Menschen aus Fleisch und Blut,
mit Fehlern und Schwachen, halb bose, halb gut.
Nicht vollkommen sind wir, nicht arm noch reich,
Gerechte und Sünder und beides zugleich.
Christus, erbarme dich unser .. .

Wir heißen Christen und sind’s doch nicht ganz,
es fehlt uns die Glut und der göttliche Glanz.
Der Glaube ist schwach, unser Mut ist klein,
und eigentlich sollten wir Liebende sein.
Herr, erbarme dich unser .. .

Du kennst uns und weißt: wir haben versagt.
Doch du hast den Schwachen dein Heil zugesagt.
So richte uns auf, du Gott, der befreit,
denn dein ist die Kraft und die Herrlichkeit.
(Lothar Zenetti)

"Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit!"
(1. Johannes 1,8f)

In Wahrheit aufdecken – in Liebe zudecken

Sibille kam vom Spielplatz zurück. Müde schlenkerte sie ihr Eimerchen hin und her. Sie kam an einem kleinen Obstgeschäft vorbei. Draußen vor dem Laden lagen zwei hohe Berge mit Apfelsinen. Die waren gut gegen ihren Durst. Sibille vergaß weiterzugehen. Sie starrte auf die lockenden Früchte. Ganz ohne Netz lagen sie in einer offenen Kiste vor ihr. Niemand würde bemerken, wenn eine fehlte. Der Laden war leer. Sie guckte nach rechts und nach links. Auch auf der Straße sah sie niemanden. Sie überlegte; sie zögerte – sie griff: Eine Apfelsine fiel in das Sandeimerchen. Als sie rasch davonlaufen wollte, stand hinter ihr der Kaufmann. "Guten Tag, mein Fräulein!" sagte er. Dabei schaute er Sibille in die Augen. Sie konnte nicht weitergehen; sie konnte nicht reden. Auch der Kaufmann sagte nichts. Sie fasste in das Sandeimerchen und reichte dem Kaufmann die Apfelsine. Er nahm sie und suchte in der Tasche nach einem Messer. Dann hockte er sich neben Sibille. Ganz langsam schnitt er mit dem Messer die Schale auf. Keiner sagte ein Wort. Als der Kaufmann damit fertig war, drückte er ihr die geschälte Apfelsine in die Hand. Sie wollte sie nicht nehmen, sie schämte sich. Aber er stand auf, nickte Sibille zu und ging wieder in seinen Laden. (Hans Peter Richter)

Vor allen Dingen habt untereinander beständige Liebe, denn die Liebe deckt auch der Sünden Menge!
1.Petrus 4,8

Lebensklug

Gegen Aufgeregtheit und Ärger über kleine Widrigkeiten des Lebens, gegen Sorgen und Grübeleien über nichtige Dinge des Alltags gibt es ein gutes und einfaches Rezept: daran denken, dass man sterben muss. In Schwierigkeiten oder Bedrohtheiten, wenn ich mich über Menschen oder Störungen aufgeregt, mich an bedrückenden Verhältnissen wundgerieben habe, hat dieses Rezept gewirkt.
Wie anders sieht alles aus, wenn man es im Lichte des Sterbens sieht! Das Unwichtige und Kleine, das Nichtige und Törichte in Empfindung und Reaktion, im Planen und Tun fällt ab. Es geht angesichts des Sterbens um das Wesentliche und Wichtige, das Bleibende und Lebendige. Wie viele Sorgen und Ängste, wie viel scheinbar Schwerwiegendes wiegt dann gar nichts, und das wirklich Wichtige wird groß und steht im Vordergrund. Wie viele Verwicklungen lösen sich, wie viel Groll verflüchtigt sich, wie viele bange Sorgen werden unbegründet, wie viel Bedrohliches verliert seine Macht, wie viel Verkehrtes wird durchschaut und berichtigt, wenn man das beherzigt, was im Psalm steht: "Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden!" (Psalm 90,12)

Herr, lehre mich doch, dass es ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muss. Siehe, meine Tage sind eine Handbreit bei dir, und mein Leben ist wie nichts vor dir. Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben! Sie gehen daher und machen sich viel vergebliche Unruhe.
Psalm 39,5ff

Alles zu seiner Zeit

Ein weiser alter Mann traf auf seinem Weg ein junges Mädchen. Er freute sich an der anmutigen Erscheinung und an ihrer Schönheit. Weil er voll Ehrfurcht war vor dem Leben, auch vor der Jugend, verbeugte er sich tief vor dem Mädchen. Er sagte: "Du bist ein hübsches Mädchen. Sage mir doch, wie alt du bist!" Wie es fernöstliche Art ist, verbeugte sich auch das Mädchen vor dem Alten. Errötend vor Freude sagte es: "Ihr seid in einem ehrwürdigen Alter, aber ich bin erst sechzehn Jahre alt!" Und der alte Mann sagte: "Du bist wirklich sehr schön. Vor dir liegen noch viele Jahre voll Freude und Lebensreichtum. Sei nur nicht traurig, wenn die Jahre der Jugend schnell vergehen und mit ihr deine jetzige Schönheit. Wenn du gütig bist, wird deine Schönheit nie weichen. Sie wird sich wandeln zur Reife und Würde des Alters!"
Das Mädchen verstand. Noch tiefer als zuvor verbeugte es sich vor der Weisheit des alten Mannes, bevor sie sich trennten.
Auf seinem Weg begegnete dem Alten eine junge Frau, die ein Kind an der Hand führte. Er schaute sie freundlich an. Auch vor ihr verbeugte er sich tief. Er sagte: "Du bist eine glückliche Frau, so schön wie der heutige Tag. Die Sonne scheint auf dein freundliches Gesicht. Ja, du stehst im Licht der Blüte deiner Jahre. Sei nicht traurig, wenn die Zeit schnell vergeht und die Jahre deines Lebens sich neigen.
Du wirst an das Ziel deines Weges kommen. Jeden Tag musst du dankbar annehmen. Wenn du wirklich lebendig lebst, wirst du zur Weisheit des Alters gelangen. Deine Kinder und Enkelkinder werden dir mit Ehrfurcht begegnen und von deiner Weisheit lernen!"
Die junge Frau hatte ihm dankbar zugehört. Beide verbeugten sich und gingen ihrer Wege. Der weise Alte traf auf eine andere Frau mit weißem Haar. Vom Alter gebeugt, saß sie auf einer Bank am Weg. Die untergehende Sonne ließ die vielen Falten ihres Gesichtes scharf hervortreten. Der weise alte Mann trat zu ihr und verbeugte sich diesmal besonders tief vor der Greisin. "Ihr seid ein glücklicher Mensch", sagte er, "weil Ihr am Ziel des Lebens seid. Was Ihr in achtzig Jahren gelebt und erfahren habt, tragt Ihr in euch. Von Reife und Würde, von Güte und Geduld, von Ruhe und Gelassenheit spricht Euer Antlitz zu mir. Ihr habt viel erlebt und gemeistert. Wie Zeichen des Himmels sind darum die kleinen Taten, die Ihr noch tun könnt, und in den wenigen Worten, die Ihr noch sagt, schwingt himmlische Weisheit!"
Lächelnd sah die Alte den Alten an. Sie deutete auf den Platz neben sich, und der Alte setzte sich zu ihr. Beide waren am Ziel ihres Weges. Gemeinsam schauten sie in die sinkende Sonne, die den Himmel in rotgoldenes Licht tauchte. (Eine chinesische Legende)

Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit. Da merkte ich, dass es nichts Besseres gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben.
Prediger 3,11f

Stehet fest!

Das war eine wirklich ausweglose Situation für die Israeliten. Hinter sich das riesige Heer der Ägypter, das ihnen nachgejagt war und sie nun eingeholt hatte. Vor sich das wütende Meer mit seinen todbringenden Fluten. Man kann die aufgeregte Verzagtheit und das aufgebrachte Murren der Israeliten verstehen.
Immer wieder stehen Menschen, gerade Menschen, die auf Gottes Befehl unterwegs sind, in solch ausweglosen Schwierigkeiten. Es gibt kein Zurück und kein Voran, keine Lösungen zur Rechten und zur Linken. Was bleibt zu tun? Mose sagt dem Volk: "Fürchtet euch nicht, stehet fest und seht auf das, was Gott für euch tut, wenn ihr still haltet!"
Das ist ein schwerer und guter Rat. Andere Stimmen melden sich zu Wort. Die Verzweiflung flüstert uns zu: "Lege dich hin, gib alles auf und stirb!" Die Hektik und Eile rufen: "Tue etwas, raff dich auf, bleib nicht stehen, weiterkämpfen, weitereilen!"
Vermessenheit und Hochmut verlocken: "Geh einfach in das Meer hinein, das Wasser wird dich tragen, denn Gott tut für dich ein Wunder!"
Aber der Glaube hört nicht auf Verzweiflung und Hektik, auf Dünkel und Anmaßung. Er vertraut der Weisung Gottes: "Stehet fest, stehet still, wartet!" Aufrecht und fest, aber wartend und still stehen wir in den allergrößten Schwierigkeiten, um Gottes Handeln und seine Lösung zu erkennen. Und dann heißt es bald: "Zieht weiter, und ich will meine Herrlichkeit erweisen!"

Fürchtet euch nicht, stehet fest und sehet zu, was für ein Heil der Herr heute an euch tun wird. Der Herr wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein!
2.Mose 14,13f