Von Liebe eine Spur

Wie soll man das Leben lieben, wenn man Gott, die Quelle des Lebens, nicht liebt? Und wie soll man Gott lieben, wenn man das Leben, seine Gabe, nicht liebt? Wie kann man einen anderen Menschen lieben, wenn man nicht das Leben liebt? Wie kann man sich selbst lieben, wenn man das Leben nicht liebt? Wie soll man seine Arbeit lieben, wenn man das Leben nicht lieben kann? Wie soll man die Schöpfung lieben, wenn man das Leben nicht liebt?
Wenn die Liebe zu Gott und die Liebe zum Leben in einem Herzen wohnen, dann ist in allem von Liebe eine Spur: in unseren Beziehungen, in unserem Tun und Lassen, in unserem Fühlen und Wollen, Erleben und Erleiden. Auch ein schweres Leben und schmerzliche Erfahrungen wollen in Liebe verarbeitet und mit Gott in Beziehung gebracht sein. Behalt das Leben lieb heißt dann: Lass dich von Gott liebhalten!

Alle eure Dinge lasset in der Liebe geschehen!
1.Korinther 16,14

Geteilte Freude

Ein Landwirt kommt zum Kloster. In der Hand hat er eine große Weintraube mit herrlich blauen saftigen Beeren. "Bruder Pförtner, ich habe die schönste Weintraube aus meinem Weinberg mitgebracht. Raten Sie mal, wem ich damit eine Freude machen will!" "Wahrscheinlich dem Abt oder sonst einem Pater. Ich weiß es nicht." "Nein, Ihnen!" "Mir? Sie haben an mich gedacht?" Er findet kaum Worte. Die Freude, die der Landwirt im Gesicht des anderen sieht, macht ihn selbst froh. Der Bruder Pförtner legt die Weintraube vor sich hin. Ach, die ist viel zu schön, um etwas davon abzupflücken. Den ganzen Vor mittag freut er sich an ihrem Anblick. Dann hat er eine Idee: Wenn ich die jetzt unserem Vater Abt schenke, was für eine Freude wird der haben! Und er gibt die Traube weiter. Der Abt freut sich wirklich. Als er abends einen kranken Pater in seinem Zimmer besuchen will, kommt ihm der Gedanke: Den kannst du sicher mit dieser Traube froh machen. Die Traube wandert weiter. Schließlich bringt sie ein Mönch wieder zum Bruder Pförtner, um ihm einmal eine Freude zu machen. So hat sich der Kreis geschlossen, ein Kreis der Freude.

Die Seele nährt sich von dem, worüber sie sich freut. (Nach Augustin)

Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch! Eure Güte lasst kund sein allen Menschen!
Philipper 4,4f

Abendlied

Es ist so still geworden,
verrauscht des Abends Wehn;
nun hört man allerorten
der Engel Füße gehn;
rings in die Tale senket
sich Finsternis mit Macht –
wirf ab, Herz, was dich kränket
und was dir bange macht!

Es ruht die Welt im Schweigen,
ihr Tosen ist vorbei,
stumm ihrer Freude Reigen
und stumm ihr Schmerzensschrei.
Hat Rosen sie geschenket,
hat Dornen sie gebracht –
wirf ab, Herz, was dich kränket
und was dir bange macht!

Und hast du heut gefehlet,
o schaue nicht zurück;
empfinde dich beseelet
von freier Gnade Glück.
Auch des Verirrten denket
der Hirt auf hoher Wacht –
wirf ab, Herz, was dich kränket
und was dir bange macht!

Nun stehn im Himmelskreise
die Stern‘ in Majestät;
in gleichem, festem Gleise
der goldne Wagen steht.
Und gleich den Sternen lenket
er deinen Weg durch Nacht –
wirf ab, Herz, was dich kränket
und was dir bange macht!
(Gottfried Kinkel)

Alle eure Sorge werfet auf ihn; denn er sorgt für euch!
1.Petrus 5,7

Wer ist schuld?

Ein Mädchen ist einst zu einem Brunnen gegangen, um Wasser zu schöpfen. Als sie ihre Eimer gefüllt hatte, wollte sie vor dem langen Heimweg noch ein wenig ausruhen. So setzte sie sich auf den Brunnenrand, lehnte sich an das Gestänge, ließ sich von der warmen Sonne wohlig wärmen und schlief darüber ein.
Das Schicksal sah das Mädchen sitzen und in der Gestalt einer alten Frau weckte es das schlafende Mädchen behutsam auf. Das Mädchen öffnete verwirrt die Augen und schimpfte auf die alte Frau: "Warum lässt du mich nicht ein wenig schlafen? Ich hatte solch einen wunderbaren Traum!" – "Damit du nicht in den Brunnen fällst. Stell dir vor, du würdest im Traum in die Tiefe stürzen, alle Menschen würden wieder mir, dem Schicksal, die Schuld geben an deinem Unglück, wo es doch deine Unachtsamkeit gewesen wäre!"

Was murren denn die Leute im Leben? Ein jeder murre wider seine Sünde!
Klagelieder 3,39

Feuer anzünden

Ich zünde heute Morgen mein Feuer an.
Die Engel des Himmels sehen mir zu.
Ich zünde es an ohne böse Gedanken,
ohne Neid und ohne Eifersucht,
ohne Furcht, nur mit dem großen Wunsch,
Gott möge mich den Tag beschützen.

Gott, zünde du innen in meinem Herzen
das Feuer an: die Liebe zu meinen Nächsten,
die Freundlichkeit zu Freunden und Feinden,
die Mitfreude mit den Glücklichen,
das Mitleid mit den Bedrückten.
Zünde du innen in meinem Herzen das Feuer an:
die Flamme der Hoffnung gegen alle Resignation,
das Brennen des Geistes für alles Gute,
die Wärme gegen den kalten Hauch des Egoismus.

Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden; was wollte ich lieber, als dass es schon brennte!
Lukas 12,49

Gepäckträger Nr. 42

Grand-Central-Station New York, der größte Bahnhof der Welt.
Die Sonne flutet durch die zwanzig Meter hohen Fenster und über die Marmortreppen wie in eine Kathedrale. Doch die vielen Menschen jeder Sprache und Farbe schauen sich kaum um, denn sie haben Eile. Sie merken auch nicht, dass neben ihnen Menschen gehen, die in großer Not sind. Einer aber sieht das. Es ist Gepäckträger Nr. 42, etwa vierzig Jahre alt.
Eine junge Frau ruft: "Gepäckträger!" Da geht Nr. 42 auf sie zu. Sie hat eine ältere Dame im Rollstuhl neben sich. "Bitte, bringen Sie meine Mutter zum Zug nach Philadelphia! Ich muss schnell telefonieren."
Der Gepäckträger schiebt den Stuhl durch die belebte Bahnhofshalle. Die alte Dame nimmt ihr Taschentuch und wischt sich über die Augen.
"Ist das Ihre Tochter, Madam? Eine schöne Frau!", sagt der Gepäckträger. Die alte Dame nickt. "Haben Sie mehrere Kinder zu Haus? Sie müssen glücklich sein, weil Sie eine so nette Tochter haben.
So redet der Gepäckträger weiter, bis sie zum richtigen Gleis kommen. Die Dame macht ihre Tasche auf und pudert sich. "Merkt man, dass ich geweint habe?", fragt sie schnell. "Kaum", antwortet der Gepäckträger. "Ich will nicht, dass meine Tochter es merkt, aber ich bin so verzweifelt. Ich bin krank, sehr krank. Niemand kann mir helfen!"
"Gott kann helfen!", sagt Nr. 42 ruhig.
"Meinen Sie, dass ich glauben könnte, es gäbe einen guten Gott im Himmel, wenn er mich so leiden lässt?"
"Gott hat seinen eigenen Sohn auch leiden und sterben lassen, um unserer Sünden willen."
Die Dame sieht erstaunt auf. "Das verstehe ich nicht." – "Niemand versteht es, Madam. Aber wir glauben es." -"Soll ich glauben, dass Gott mir diese Krankheit …?" – "Wie Sie wollen, Madam. Aber eins von beidem müssen Sie glauben. Ich nehme das Erste an, denn das gibt mir Frieden und Zuversicht, das Schwere, das ich nicht verstehe, zu tragen. – Aber hier kommt Ihre Tochter!"
"Wie heißen Sie, Gepäckträger?", fragt die Dame beim Einsteigen.
"Ralston Young, Madam, Gepäckträger Nr. 42."
"Mr. Young, ich danke Ihnen: Sie werden von mir noch hören!" – Ein Jahr später bekommt Ralston einen Brief: "Meine Mutter ist gestorben. Sie wollte, dass ich Ihnen sage, sie sei im Frieden und Vertrauen zu Gott heimgegangen. Die Familie dankt Ihnen …"
Ralston ist glücklich; denn er hat mit seinem Glauben einem anderen Menschen geholfen. Das ist seine Arbeit: Gepäckträger und Seelsorger – Abnehmer aller Art von Lasten – im größten Bahnhof der Welt. (William Graffam)

Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen!
Galater 6,2

Goldene Regel

Die einfachste und schwerste Regel des Lebens, die für jeden Menschen auf Erden das Beste wäre, hat zwei Seiten. Einmal sollten wir alle die Dinge und Werte, die wir uns wünschen, auch dem Nächsten zukommen lassen. Und zum anderen sollten wir alles, was wir uns an Übeln nicht wünschen und an Schlechtem vermeiden, auch dem Nächsten nicht zudenken oder zustoßen lassen. Wenn wir diese Goldene Regel dann auch noch für Menschen gelten lassen, die uns um unser Glück beneiden und es uns nicht gönnen und uns das Übel wünschen oder gar zufügen, dann haben wir die reifste Form dieser Goldenen Regel gefunden.

Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, in dem: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!
Galater 5,14

Unfassbar

Wie sehr wir im Empfinden und Reagieren von uns selbst und wie wenig wir vom anderen ausgehen, wurde mir einmal bei folgendem Erlebnis deutlich: In Marburg besuchte ich Freunde. Es war ein Wintertag und abends schon stockdunkel. Hans wollte gern mit mir noch einen langen Waldspaziergang machen. Da er sich sehr gut auskannte, vertraute ich mich ihm sorglos an. So gelangten wir in den nahe gelegenen Wald, in dem es nun so finster war, dass man buchstäblich die Hand vor Augen nicht sehen konnte. Vorsichtig hielt ich mich eng an seiner Seite, ich ließ seine Schulter stets die meine spüren, um auf dem Weg zu bleiben. Langsam löste sich meine Verkrampfung und wir unterhielten uns angeregt. Plötzlich hörten wir ein Rascheln und dann Schritte. "Da kommt jemand", sagte ich besorgt. "Das ist Herr X, der macht hier jeden Tag seine Runde", bemerkte Hans. Herzliche Begrüßung, einige freundliche Worte, und jeder ging seines Weges. "Dass der sich bei der Dunkelheit allein in den Wald traut", sagte ich erstaunt. "Der Mann ist völlig blind", sagte Hans, "aber der kennt hier jeden Meter."
"Das ist ja unfassbar", sagte ich, "geht als Blinder in diesen dunklen Wald, wo ich noch nicht einmal etwas sehen kann!" Worauf Hans ganz locker sagte: "Für ihn ist es auch mittags so dunkel!" Da erst merkte ich, dass das Einzige, was unfassbar war, meine Reaktion war. Ich hatte es mit meinen Augen gesehen und nur von mir aus bewertet.

Niemand betrüge sich selbst. Wer unter euch meint, weise zu sein in dieser Welt, der werde ein Narr, dass er weise werde!
1.Korinther 3,18

Im Kleinsten liegt die wahre Größe

Geduldig sein in kleinen Leiden, das kleinste Böse ernstlich meiden, bei allen kleinen Sachen das Kleinste sich zum Segen machen, sich freuen an den kleinen Dingen, im Kleinsten schon sich selbst bezwingen, in kleinen Pflichten treu sich üben, den kleinsten Dienst von Herzen lieben, auch kleine Opfer niemals scheuen, am kleinsten Sonnenstrahl sich freuen, die kleinste Blume nicht zertreten, gern helfen auch in kleinen Nöten, den kleinen Glauben nicht zerstören, auch gerne kleinen Rat anhören, in kleinen Kämpfen nicht verzagen, die kleinste Not zu Jesus tragen, für kleinste Liebe herzlich danken, in kleinster Treue niemals wanken.

Wer im Geringsten treu ist, der ist auch im Großen treu; und wer im Geringsten ungerecht ist, der ist auch im Großen ungerecht.
Lukas 16,10

Gezeichnet für das Leben

Ich sitze im Straßencafé einer Großstadt mit Cappuccino und Buch und schaue zwischendurch den vielen verschiedenen Menschen nach, die vorübergehen. Dabei fallen mir drei Jugendliche ins Auge; auf ihren schwarzen T-Shirts steht mit weißen Buchstaben aufgedruckt: scarred for life – gezeichnet für das Leben!
Beim Lesen fallen mir viele Kinder und Menschenkinder ein, die durch irgendein Schicksal für ihr Leben gezeichnet sind. Kranke und behinderte Kinder, arme und misshandelte Kinder, schwer arbeitende und missbrauchte Kinder, Waisenkinder, Findelkinder, Aidskinder und Straßenkinder, Slumkinder und bettelnde Kinder, scarred for life – gezeichnet für ihr Leben.
Und dann fällt mir ein, dass das Wort gezeichnet nicht nur die negativen und schlimmen Dinge bedeuten muss. Gibt es auch ein Gezeichnetsein zum Guten und Überwinden, zum Wachsen und Gelingen, zum Vorankommen und Siegen? Die Kinder, die wir zur Taufe oder zur Segnung in Gottes Haus bringen, werden gezeichnet für ihr Leben. Eltern, die ihre Kinder abends zu Bett bringen, mit ihnen beten und sie segnen, scarred for life – gezeichnet für ihr Leben. Vor einer Reise oder am ersten Schultag werden in vielen Gemeinden und Elternhäusern die Kinder gesegnet, und das heißt wörtlich: gezeichnet, sozusagen signiert, handsigniert von Gott selbst.
Lassen wir uns gegen alles Negative, Böse und Schlimme in jedem Gottesdienst segnen. Am Geburtstag, bei der Eheschließung, beim Einzug in ein Haus und am Anfang einer Arbeit können wir uns segnen lassen. Sicher haben wir dann auch die besseren Motive, die vom Schicksal gezeichneten Menschen zu begleiten, ihnen zu helfen und ihre Not zu lindern.

Siehe, in meine Hände habe ich dich gezeichnet.
Jesaja 49,16

Der Herr segne euch je mehr und mehr, euch und eure Kinder!
Psalm 115,14