Befreit

Endlich kommt Bewegung in mein Leben. Ein Fahrstuhlkatalog liegt auf dem Schreibtisch. Dann suchen wir aus.
"Er" soll der leichteste, kleinste und preiswerteste sein – mit Rücksicht auf die Menschen, die ihn tragen, schieben und bezahlen wollen …
Dann steht er zusammengefaltet neben mir, mein "Gefährte". Ich kann den Blick nicht von ihm wenden. Noch in der Nacht glitzert er verführerisch, wenn sich auf seinem blanken Gestell das Licht der Laterne von draußen spiegelt. Bald darf auch ich nach draußen. Ich darf verreisen!
Es beginnt eine Zeit, die gefüllt ist mit Entdeckungen. Es duftet herauf zu mir von den Kräutern am Wegrand, Brennnesseln sehe ich wieder blühen, Maientriebe an den Fichten betaste ich vorsichtig, fühle Blätter und Baumrinden. Und ich lebe so gern – noch ungeübt, alles zu überschauen, noch schnell ermüdend.
Und schon denke ich weiter. In immer wiederkehrenden Träumen fährt mich der Fahrstuhl allein, ohne fremde Hilfe. Und nach drei Jahren ist es so weit. Ein junger Pastor erklärt mir das so: "Diesmal muss es ein elektrischer Fahrstuhl sein!" Erstaunt und ein bisschen unsicher frage ich nach, weil ich jubeln möchte und mich zugleich vor Versprechungen und Enttäuschungen fürchten gelernt habe: "Meinen Sie es wirklich ernst?" Er lacht, offen, herzlich und sagt die guten Worte: "Dieser Fahrstuhl für Sie ist mir genauso wichtig wie ein Paar Schuhe, die ich einem Menschen besorge, der keine hat – damit er wieder laufen kann!"
So habe ich die Fähigkeit erworben – im übertragenen Sinne -, wieder laufen zu können, und bin "entfesselt".
Am Abend fahren wir hinaus, mein "Gefährte" und ich, um die Amseln zu hören. Die Stadt ist mir noch fremd, besonders der ungewohnte, lärmende Verkehr. Mein Herz hämmert, wenn wir die Straße überqueren müssen. "Er" aber hat Nerven aus Stahl. Wir lernen, den Schaufensterbummel schön zu finden und draußen "vor" einem Laden einzukaufen. Oft sind wir von Kindern eingekreist, die "ihn" fachmännisch untersuchen und auch einmal steuern möchten. Mit "tiefem Gebrumm" wird ein Berg erklommen, und ins Tal hinunter sausen wir mit "hellem Ton". Immer singt der Motor seine Melodie dazu.
Bewegung ist in mein Leben gekommen, Bewegung, die befreit, die sich überträgt, die mich empfinden lässt: Ich komme vorwärts. Impulse übertragen sich und lassen mich ganz vergessen, dass es nicht meine eigene Kraft ist, die mich bewegt.
Leben wir aber nicht alle aus der Kraft, die nicht die unsere ist?
Gottes Kraft kann auf vielerlei Weise mächtig werden. (Lieselotte Jacobi)

Der Herr ward meine Zuversicht. Er führte mich hinaus ins Weite, er riss mich heraus; denn er hatte Lust zu mir!
Psalm 18,19f

Gefesselt

Immer wieder kann man lesen und hören, ein Mensch sei "an den Rollstuhl gefesselt". Dieser Ausspruch, oft gedankenlos nachgeplappert, trifft aber den Behinderten ins Herz. Auch wenn dieser Satz vielleicht geprägt wurde, um Mitleid zu erregen oder Nachsicht zu erbitten, stutze ich jedes Mal davor, falle über ihn her und möchte ihn verschlingen und unschädlich machen.
"Fesseln" sprechen eine düstere, muttötende Sprache. Als Gefesselte fühlen wir uns doch gedanklich eingezwängt in solche Begriffe wie Gefängnis, Dunkelhaft, Strafe. Wir sind isoliert, entfremdet, weit ab von den anderen.
Es stimmt wohl, dass unser Leben mühselig und beladen ist. Wir tragen schwer daran, dass wir manchmal ausgeliefert sind an Menschen, die Macht ausüben.
Doch: Muss die Last nur lästig und Fessel sein? Oder: Können wir versuchen, zu dem "nicht zu lösenden" Problem ein "gelösteres" Verhältnis zu bekommen?
Können wir lernen, im "Aufgeben" eine neue "Aufgabe" zu finden?
Können wir es wagen, die eigene Last nicht einseitig zu tragen, sondern vielleicht die eines anderen mitzutragen, auf unsere Weise, damit wir ausgewogener und ausgelasteter werden? Manchmal erleichtert es, nicht mehr an das Loswerden unserer Last zu denken, sondern sich bewusst zu machen, was wir an Gutem dagegensetzen könnten.
Vielleicht – fahrbereit zu werden! Im Fahrstuhl …
Ich liege und warte. Ich träume von ihm, wünsche, bitte und dränge danach, fahren zu dürfen. Ich muss lange warten. Vielleicht denkt man auch, ich könnte wieder gesund werden.
Im Sommer beuge ich den Kopf weit aus dem Fenster, damit mir der Wind wieder um die Nase wehen kann. Ich spüre ihn im Haar, im Gesicht, und ich schnuppere nach dem Duft, der herüberkommt von Holunder und Ahorn. Die Menschen sind mir ferner aus meiner Vogelperspektive, die Spatzen näher in der Dachrinne. Es stört sie nicht, wenn der Sturm ihren Federrücken aufraut.
Sommerblumen male ich gern. Sie sollen nicht verblühen. Sie fordern mich auf, in sie hineinzusehen, um das Bewundern, Staunen und Freuen nicht zu verlieren. – Im Liegen sieht es sich leichter in die Wolken. Auch sie sind näher jetzt und meine Gefährten. Vorüberziehende. Täglich gleiten sie still dahin, verändern und vertiefen den weiten Himmel. – Ich höre den Mittagszug und denke in die Weite. (Lieselotte Jacobi)

Als mir Angst war, rief ich den Herrn an und schrie zu meinem Gott. Da erhörte er meine Stimme von seinem Tempel, und mein Schreien kam vor ihn zu seinen Ohren.
Psalm 18,7

Selbstbetrug

Ein Mann sitzt an der Bar. Er ist völlig verzweifelt und ratlos. Er wendet sich zur Seite und sagt zu dem fremden Mann neben sich: "Ich kann es einfach nicht verstehen, ich brauche nur einen kleinen Drink, wirklich nur einen einzigen, winzigen kleinen Drink, und schon bin ich betrunken!" Der Fremde schaut ihn verwundert an und fragt vorsichtig nach: "Wirklich nur einen?" – "Ja, und gewöhnlich ist es der Zehnte!"
Einmal ist keinmal, sagen wir und betrügen uns selbst. Wie oft machen wir die großen Laster so klitzeklein und lügen uns selbst und anderen etwas vor. Fünfe werden plötzlich gerade, wenn wir es gern so haben. Wenn es um unsere Unschuld geht, können wir plötzlich weder zählen noch rechnen.

Niemand betrüge sich selbst. Wer unter euch meint, weise zu sein in dieser Welt, der werde ein Narr, dass er weise werde!
1.Korinther 3,18

Der beste Weg

Der Glaube an Jesus
macht nicht lässig, aber gelassen,
nicht übermütig, aber mutig,
nicht ängstlich, aber engagiert,
nicht träge, aber tragfähig,
nicht kleinlich, aber in kleinsten Dingen treu,
nicht sorgenvoll, aber sorgfältig,
nicht egoistisch, aber selbstbewusst.
Der Glaube setzt nicht auf Beliebigkeit,
aber auf Entscheidungen in Liebe.
Der Glaube fragt nicht nach Mehrheit, aber nach Wahrheit.
Der Glaube nimmt das Leben ganz ernst,
und hat darum so viel Freude daran.
Der Glaube meint den Einen und findet in ihm alles.
Der Glaube ist nicht das Ziel, aber der beste Weg zum Ziel.

Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?
Römer 8,32

Geld oder Reichtum

Ein Ehemann sagt zu seiner Frau einige Zeit nach ihrer Hochzeit: "Liebling, ich werde viel und hart arbeiten, und eines Tages werden wir einmal sehr reich sein!" Worauf die Frau ihn in den Arm nimmt und ganz sanft sagt: "Wir sind schon reich, mein Liebster, wir haben uns und lieben uns, vertrauen uns und halten zueinander. Und eines Tages werden wir vielleicht einmal Geld haben!"

Wie köstlich ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben! Sie werden satt von den reichen Gütern deines Hauses, und du tränkst sie mit Wonne wie mit einem Strom.
Psalm 36,8f

Folgenschwere Entscheidung

Als Sohn eines armen, versoffenen Schuhmachers in Georgien geboren, wurde Jossif Stalin zum mächtigsten und gefürchtetsten Mann der UdSSR. Seine Mutter hatte nur einen Wunsch und ein Gebet, dass ihr Sohn Priester werden möchte. Sie machte alles möglich, dass Jossif, der ein guter Schüler war, in Tiflis ins Priesterseminar aufgenommen wurde. Fünf Jahre hat Stalin dort die langen Gottesdienste, die strengen Regeln, den harten Unterricht, die kargen Mahlzeiten, die ewigen Verbote und zahlreichen Strafen kennen gelernt. Und er hat dann bewusst mit Gott gebrochen. Statt Jesus und seine Liebe nahm er sich Iwan den Schrecklichen und seine Grausamkeiten zum Vorbild. Von Iwan dem Schrecklichen lernte Stalin das Geheimnis der Macht: Wer das größte Maß an Grausamkeit am intelligentesten einsetzt, wird immer den Sieg davontragen. Die unvorstellbaren Gräueltaten faszinierten den jungen Stalin, so etwa dass Iwan dem Erbauer der Basiliuskathedrale nach deren Fertigstellung beide Augen ausstechen ließ, damit er niemals mehr für einen anderen eine solche Schönheit würde entwerfen können.
Diese Entscheidung gegen die Liebe und für die Grausamkeit und Macht kostete Millionen Menschen das Leben und richtete ein Meer von Blut und Tränen an. – Auch wir müssen uns entscheiden, wem wir folgen, wer unser Vorbild und was unsere Ziele sind. Und so wie wir jetzt die Weichen stellen, werden später dann die Züge fahren.

Und als Jesus vorüberging, sah er Levi, den Sohn des Alphäus, am Zoll sitzen und sprach zu ihm: Folge mir nach! Und er stand auf und folgte ihm nach.
Markus 2,14

Liebeslied

Wie soll ich meine Seele halten, dass sie nicht an deine rührt?
Wie soll ich sie hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möchte‘ ich sie bei irgendwas Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Spieler hat uns in der Hand?
O süßes Lied!
(Rainer Maria Rilke)

Liebe ist der Zusammenklang von Menschen, die nicht über sich hinweg zu andern Dingen gelangen. Was den Einen anrührt, schwingt auch im Andern mit. Aus zwei Menschen wird eine Erfahrung, eine Stimme, ein Leben, ein Leib. Aber die Frage bleibt, in welchen Zusammenhang zwei Liebende eingespannt sind. Wenn Gott in seiner Liebe den Bogen führt, wenn Gott mit seiner Hand die zwei Saiten so verbindet, dass sie eine Stimme werden, wird es auch ein süßes Lied!

Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seiner Frau hängen, und die zwei werden ein Fleisch sein. Dies Geheimnis ist groß; ich deute es aber auf Christus und seine Gemeinde.
Epheser 5,31f

Der weise Richter

Eine arabische Geschichte erzählt von einem alten Richter, der wegen seiner Weisheit im ganzen Land gerühmt wurde. Eines Tages sucht ihn ein Geschäftsmann auf und berichtet, dass aus seinem Laden wertvolle Waren gestohlen worden seien. Er habe aber den Dieb nie ausfindig machen können. Der Richter befahl, die Ladentür aus den Angeln zu heben, mitten auf den Marktplatz zu bringen und sie dort mit fünfzig Peitschenhieben dafür zu bestrafen, dass sie es nicht vermocht hatte, den Dieb aus dem Laden fern zu halten.
Die ganze Stadt versammelte sich, um diesem ungewöhnlichen Strafvollzug beizuwohnen. Als die Hiebe auf die Tür ausgeteilt waren, beugte sich der Richter zu ihr hinunter und fragte sie, wer der Dieb sei. Dann legte er sein Ohr an die Tür, um ihre Antwort zu erlauschen.
Als er sich aufrichtete, rief er laut in die Menge: "Die Tür erklärt, dass die Diebstähle von einem Mann begangen seien, der auf seinem Turban eine Spinnwebe hat!"
In demselben Augenblick hob ein Mann aus der Menge seine Hand und fasste auf seinen Turban. Sogleich wurde sein Haus durchsucht, die gestohlenen Waren entdeckt und der Täter festgenommen.

Gott, du kennst meine Torheit, und meine Schuld ist dir nicht verborgen!
Psalm 69,6

Stärke und Schwäche

"Ein Mensch fällt nicht, weil er schwach ist, sondern weil er meint, stark zu sein!", sagt ein Sprichwort.
Powertypen, schlagfertig und durchsetzungskompetent mit Siegerlächeln und Erfolgslaune sind heute gefragt. Stark, fit, gesund und obenauf sind die Ideale. Nur keine Schwäche zeigen, sich nie eine Blöße geben, keine Verwundungen zugeben, niemals Fehler eingestehen oder gar um Verzeihung bitten! Wir sind stark, setzen uns durch, gewinnen die Oberhand, sind zum Siegen geboren.
Hinter der starken Fassade liegt die Wirklichkeit: Wir haben Stärken, aber auch Schwächen; wir möchten gewinnen, haben aber oft auch verloren; wir stehen zu unseren Gaben und warum nicht auch zu unseren Grenzen? Gerade wer meint, stark zu sein, wird eher und tiefer fallen. Wer ehrlich zu seiner Schwäche steht und Mängel nicht kaschiert, sondern zugibt, kommt besser zurecht mit sich selbst, mit anderen und seinen Lebenszielen.
Und vor Gott brauchen wir allemal nicht groß zu tun, stark zu sein, Erfolge aufzuzählen und Fehler zu verstecken. Gott kennt uns noch genauer als wir uns selbst, weiß alles und liebt uns doch ganz. Seine alle unsere Schwäche einschließende Treue ist unsere wirkliche Stärke!

Darum, wer meint, er stehe, mag zusehen, dass er nicht falle. Bisher hat euch nur menschliche Versuchung getroffen. Aber Gott ist treu, der euch nicht versuchen lässt über eure Kraft, sondern macht, dass die Versuchung so ein Ende nimmt, dass ihr’s ertragen könnt.
1.Korinther 10,12f

Heiligenschein oder scheinheilig?

Ein alter frommer Rabbi lag schwer krank im Bett, und seine treuen Schüler standen um sein Lager herum und lobten seine beispiellose Größe. "Seit Salomo gab es niemanden, der weiser wäre als er!" "Und sein starker Glaube gleicht dem unseres Vaters Abraham!" "Seine unendliche Geduld ist der Geduld des Hiob gleich!" "Wie Moses hat er einen vertrauten Umgang mit Gott selbst!" So sprachen die Schüler und bewunderten ihren Meister. Doch der schien keine Ruhe zu finden. Nachdem die Schüler gegangen waren, versuchte seine Frau ihn zu trösten: "Hast du gehört, wie deine Schüler deine Tugenden gelobt und dich bewundert haben? Warum bist du dann noch so betrübt?" – "Meine Bescheidenheit", klagte der Rabbi, "meine große Bescheidenheit hat niemand von ihnen erwähnt!"

Habt Acht auf eure Frömmigkeit, dass ihr sie nicht übt vor den Leuten, um von ihnen gesehen zu werden; ihr habt sonst keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel!
Matthäus 6,1