Phantasie der Liebe
Es war einmal ein hoher Beamter bei seinem König in Ungnade gefallen. Der Herrscher ließ den Beamten zur Strafe im obersten Stock eines hohen Turmes einkerkern. In einer mondhellen Nacht schaute der Gefangene sehnsüchtig aus seinem Gefängnis hinab in den Hof. Dort unten in der schwindelnden Tiefe entdeckte er seine Frau. Sie machte ihm ein Zeichen und berührte die Mauer des Turmes. Voller Erwartung blickte der Mann herunter, gespannt, was seine Frau vorhabe. Ihre leisen Rufe konnte er nicht verstehen. – Aber sie hatte einen Plan. An einem Käfer, dessen Fühler sie mit Honig bestrichen hatte, befestigte sie einen winzigen Seidenfaden. Dann setzte sie das Tier – mit den Fühlern nach oben – an die Turmmauer, gerade unterhalb der Stelle des Turmes, wo sie hoch oben ihren Mann hinter den Gittern sah. Der Käfer krabbelte langsam – immer dem Honig folgend – höher hinauf, bis er schließlich bei dem Gefangenen ankam. Der sah den dünnen Seidenfaden, löste ihn vorsichtig vom Insekt und zog ihn langsam nach oben. Am seidenen Faden hing schließlich ein Zwirnsfaden, am Zwirnsfaden dann eine dicke Schnur, an der Schnur letztendlich ein kräftiges Seil. Er befestigte das Seil an einer der Turmzinnen, zwängte sich durch das Fenstergitter hinaus und ließ sich am Seil hinab. Er war frei. Glücklich schloss er seine Frau in die Arme, und leise verschwanden sie in der Nacht.
(Nach einem indischen Märchen)
Manchmal hängt das Leben an einem seidenen Faden. Aber die Phantasie der Liebe kann daraus ein dickes Seil der Erlösung und Befreiung machen.
"Wandelt in der Liebe, gleichwie Christus euch hat geliebt!"
(Epheser 5,2)